22 • ZIVILCOURAGE Anecken oder lieber Mund halten? Sich für andere oder auch mal für sich selber einzusetzen, hat meist Konsequenzen. Was die Autorin dank ihrer „Kodderschnauze“ bestä- tigen kann. Erfahrungen aus ihrem beruflichen und privaten Alltag. | Gigi Sams „Woher nehmen couragierte Menschen ihren Mut und begeben sich in riskante Situationen, die die meisten von uns lieber meiden?“, wollte der deutsche Politik- und Kul- turwissenschaftler Wolfgang Heuer wissen und ging die- ser Frage in einer Untersuchung nach, die er Anfang der 1990er-Jahre in einer ostdeutschen Großstadt durchführte (Heuer 2002). In der Studie (s. Quellenhinweis) befragte er Frauen und Männer, die in der DDR gelebt und Zivil- courage gezeigt hatten, also ein hohes Risiko eingegangen waren. Bei der Auswahl der Befragten hatte sich Heuer für diejenigen entschieden, die sich in eigener Sache ge- gen Zumutungen und Unterdrückung zur Wehr setzten. Altruistisches, gemeinwohlorientiertes Handeln war nicht ausgeschlossen, aber nicht vorrangig. Was sich dabei her- ausstellte: „Alle Personen der Untersuchung haben nicht aufgrund denkerischer Einsicht beschlossen, couragiert zu handeln, sondern aufgrund äußerer Umstände, Bedräng- nisse und Herausforderungen und so im Lauf der Zeit ei- nen Habitus des mutigen Handelns entwickelt. Das Nach- denken erfolgte immer frühestens mit dem Handeln, meist erst danach.“ Und hier komme ich ins Spiel. Situation 1 Großraumbüro einer Lokalzeitung. Nach dem Abi hatte ich mich für ein Volontariat beworben, aber keine Antwort be- kommen. Das fand ich ungehörig und monierte es – mit Er- folg, ich wurde kontaktiert, zu einem Vorstellungstermin gebeten und eingestellt. Nun also meine erste Woche, Tag 3, als Volontärin. Am Abend zuvor war ich zu einer öffent- lichen Anlageberatung in die örtliche Sparkasse geschickt worden, soll darüber schreiben. Was genau, wer muss er- wähnt werden, wie lang soll der Text sein? Hektischer Be- trieb, keiner hat Zeit, etwas zu erklären. „Mach mal, aber ratzfatz!“ Na gut. Ich schreib mir die Finger wund, nenne alle eventuell Wichtigen beim Namen, liefere den Text beim Lokalchef ab, der ihn kommentarlos an die Chefre- daktion weitergibt. Schon steht der Stellvi (stellvertreten- der Chefredakteur) in der Tür, brüllt: „Was soll ich mit die- sem Sch...., ich will 20 Zeilen, keine 80“, schmeißt mir den Artikel quer über zwei Schreibtische auf die Tastatur. Wow, toller Auftritt, aber nicht mit mir! Mit rotem, erhobenem Kopf meine Retoure, bevor er kehrt machen kann: „Herr G., es ist Ihr Recht, mich Anfängerin zu kritisieren. Nur bitte nicht in diesem Ton und vor allen anderen.“ Stille im Raum, alle scheinen den Atem anzuhalten, und dann: „In mein Büro, sofort!“. Tja, das war’s wohl mit meinem Volon- tariat. Hätte ich lieber den Rüffel schlucken und schweigen sollen?! Nö, ich fühle mich im Recht. Es kam ohnehin anders als befürchtet. Nach weiteren, sehr lautstarken Minuten im Glaskasten gab er mir Gelegenheit, zu erklären, warum ich so viel geschrieben hatte, bot mir daraufhin sogar an, ihn zu fragen, wenn ich in der Lokalre- daktion mangels Zeit keinen Ansprechpartner finden wür- de. Zusätzlicher Effekt für alle: Demütigungen vor versam- meltem Team kamen kaum noch vor. Situation 2 Viele Jahre später, bei einer Zeitschrift, während einer Vollversammlung inklusive Chefredaktion und Betriebsrat. Ein Ressort (Abteilung) soll aufgelöst, den drei Mitarbeite- rinnen gekündigt werden. Nach all den Erklärungen, wa- rum das nicht zu verhindern sei, melde ich mich zu Wort. „Ich kann trotzdem nicht nachvollziehen, weshalb den Kol- leginnen gekündigt werden muss. Wir haben ohnehin zu wenig Leute, sind zudem Teil eines Großverlages, da muss es doch Möglichkeiten geben, sie anderweitig unterzu- bringen.“ Der Chefredakteur sarkastisch: „Danke, dass Sie mich daran erinnern. Natürlich haben wir bereits Gesprä- che mit anderen Bereichen geführt, werden uns weiterhin bemühen, die betroffenen Kolleginnen unterzubringen.“ Ich: „Dann ist es ja gut, hätten Sie auch gleich sagen kön- nen.“ Zu flapsig? Sein Blick verheißt nichts Angenehmes für mich. Und tatsächlich, Auftakt für eine Art Psycho-Feldzug: Je- der Artikel von mir, jeder Redebeitrag in Konferenzen kommt unter die Lupe, wird negativ kommentiert. Selbst in Meetings mit anderen Ressorts verkündet der CR, wie sehr er mich verabscheut und dass er alles, was von mir ist, doppelt und dreifach checkt, um mich bei Fehlern zu ertappen. Meine Ressortchefin ist entsetzt, verspricht, mir beizustehen. Gemeinsam mit ihr kontrolliere ich jeden Be- richt aufs Genaueste, gehe ihm aus dem Weg. Soll ich mich beim Betriebsrat über seine Anfeindungen beschweren? Nein, ich will ihn direkt darauf ansprechen. Bei einem Fest